Helfen unter extremen Bedingungen
Seit wenigen Jahren werden die Sanitäter im Landkreis immer wieder Opfer von Schimpftiraden und Schlägen. Diebe stehlen sogar Equipment aus Rettungswagen.
Marktredwitz/ Wunsiedel - Wenn der Piepser anschlägt, steigt der Adrenalinspiegel der Sanitäter sprunghaft. Erwartet sie ein Herzinfarkt? Gibt es Schwerverletzte bei einem Unfall? Oder droht ein Kind zu ersticken? Sekunden später, wenn sie von der Wache in den Rettungswagen gesprungen sind, wissen sie mehr. Auf einem großen Display erscheinen alle verfügbaren Angaben zu dem Einsatz. Außerdem schaltet sich sofort das integrierte Navi ein und lotst die Retter zu dem Patienten.
Der permanente Wechsel vom relativ entspannten Warten in der Wache zum Einsatz unter Hochspannung ist für die Notfall- und Rettungssanitäter Stress pur. Doch seit ein, zwei Jahren kommt noch etwas anderes dazu: Immer häufiger werden auch im Landkreis Wunsiedel die Sanitäter angegriffen, beleidigt oder angespuckt. Deshalb gilt am Einsatzort der erste Blick dem Fluchtweg. "Wir suchen intuitiv eine schnelle Rückzugsmöglichkeit, falls uns jemand ein Messer in den Bauchrammen will", sagt Torsten Rittmayr, stellvertretender Leiter des Rettungsdienstes.
Einsatz in Selb: Die Notfall- und Rettungs-Sanitäter werden zu einem Mann mit einer bösen Schnittwunde am Arm gerufen. In der Wohnung sind mehrere Frauen und Männer, die meisten stehen unter Drogen. So auch der Patient, von dessen Arm Blut tropf. Von einer Sekunde auf die andere tickt der Mann aus und geht auf einen Sanitäter los. Wie der Leiter des Rettungsdienstes, ChristianSchwarz, sagt, sind der artige Drogen-Einsätze traurige Routine. "Bei Crystal-Konsumenten kommt es häufig zu aggressiven Ausrastern. Die Menschen sind unberechenbar, haben kein Schmerzempfinden und entwickeln schier unglaubliche Kräfte. In dem Fall in Selb mussten am Ende sechs Polizisten und Sanitäter den Mann festhalten, um ihm eine Beruhigungsspritze setzen und die Wunde verbinden zu können.
"Die Helfer haben es auch ohne die immer drastischeren Randerscheinungen nicht einfach. Umso erstaunlicher ist es, dass im Landkreis Wunsiedel offenbar im Rettungsdienst kein Fachkräftemangel herrscht. Der Geschäftsführer des BRK-Kreisverbandes, Thomas Ulbrich, freut sich, dass der Beruf vor allem für viele junge Menschen attraktiv ist. "Wir haben 14 Auszubildende im Rettungsdienst." Insgesamt sind 125 Notfallsanitäter, Rettungsassistenten und Rettungsdiensthelfer im Einsatz, darunter 90 hauptberuflich Beschäftigte, die Azubis und 21 ehrenamtlich Tätige. Da ab 2024 jeder Rettungswagen mit mindestens einem Notfallsanitäter (die höchste Qualifikationsstufe) besetzt sein muss, bildet das BRK laut Ulbrich seit geraumer Zeit die Mitarbeiter kontinuierlich weiter. "Schon heute sind bei 85 Prozent aller Einsatzfahrten Notfallsanitäter dabei.
"Zwölf-Stunden-Schichten, bei denen nicht klar ist, was einen erwartet, sind nicht jedermanns Sache. Allein im vergangenen Jahr sind die Sanitäter im Landkreis und in Waldershof 21.400 Mal ausgerückt. "Damit werden täglich rund 59 Menschen von unserem Rettungsdienst versorgt", sagt Ulbrich. Die 18 Einsatzfahrzeuge sind dabei insgesamt 800.000 Kilometer unterwegs gewesen- das ist umgerechnet 20 mal rund um den Äquator. "Man gewöhnt sich daran", sagt Torsten Rittmayr, der sich trotz aller Widrigkeiten keinen schöneren Beruf vorstellen kann.
37 Rettungsdienst-Mitarbeiter mit fünf Rettungswagen, fünf Krankentransportern und drei Notarztfahrzeugen sind pro Tag im Einsatz. Die fünf restlichen Wagen der Fahrzeugflotte sind entweder gerade in derWerkstatt oder stehen als Ersatz bereit. Zu Beginn jeder Schicht checken die Sanitäter die Fahrzeuge und das Equipment, unter anderem mobile EKG- und Beamtmungsgeräte. Insgesamt 43 unterschiedliche Medikamente haben die Notärzte und Sanitäter standardmäßig an Bord, dazu gibt es einen Koffer mit Gegengiften für alle möglichen Fälle, von der Medikamenten- und Drogen- bis zur Tollkirschen-Vergiftung.
Wenn in der Integrierten Leitstelle Hochfranken in Hof ein Notruf eingeht, entscheidet der Mitarbeiter, welche Wache er informiert. Parallel schickt er alle verfügbaren Informationen auf das Display im Rettungswagen. Die Sanitäter müssen ab dem Zeitpunkt der Alarmierung innerhalb von zwölf Minuten beim Patienten sein. "Das gelingt uns eigentlich immer. Lediglich, wo dies etwas schwieriger ist, haben wir die ehrenamtlichen,Helfer vor Ort' im Einsatz, die sich so lange um den Patienten kümmern, bis Notarzt und Sanitäter eintreffen", sagt Schwarz.
Einsatz in Marktredwitz. Der Sanitäter fährt mit annähernd 70 Stundenkilometern durch die Stadt, überquert rote Ampeln und quetscht sich zwischen Autos hindurch. Ein Szenario, das seit einiger Zeit Autofahrer ausnutzen. "Ja, wir erleben es immer wieder, dass sich Narren mit ihrem Wagen an unser Fahrzeug hängen, um schneller von A nach B zu kommen. "Schwarz schüttelt den Kopf, wenn er davon erzählt, was den Rettern in letzter Zeit so alles widerfahren ist.
Wieder ein Einsatz in Marktredwitz. Herzstillstand einer Frau in einem Seniorenheim. Binnen Minuten sind die Retter vor Ort und beginnen mit der Reanimation. Vergeblich. Als sie zurück zum Wagen kommen, fehlt das große Display mit dem Naviin der Fahrerkabine. Ein Dieb hat den Einsatz ausgenutzt und das Equipment gestohlen. "Seit dieserZeit gibt es die Order, den Wagen immer abzusperren", sagt Ulbrich. Auf dem Schaden in Höhe von 400 Euro ist das BRK übrigens sitzen geblieben.
In Selb haben vor einiger Zeit Diebe das mobile Blaulicht eines Einsatzfahrzeuges gestohlen. "Und dass die Antennen von Notarztfahrzeugen abgeschraubt oder abgebrochen werden, haben wir ebenfalls schon häufiger erlebt", berichtet Christian Schwarz. Mehre faustgroße Dellen außen und innen in Rettungswagen zeugen ebenfalls von der unerklärlichen Wut auf die Helfer. BRK-Geschäftsführer Ulbrich kann sich nicht erklären, weshalb es zunehmend zu Gewalt gegen Polizei, Feuerwehr und BRK kommt. "Offenbar ist das ein neues gesellschaftliches Phänomen. "
Bei jeder Fahrt zum Einsatzort schwingt bei den Sanitätern im Hinterkopf die Frage mit, was sie wohl erwarten wird.
Wie ein Notruf richtig ist.
Bei einem Notruf kommt es auf jede Information an. Daher muss ein Notruf folgende Fragen möglichst genau beantworten: Wo ist das Ereignis? Wer ruft an? Was ist geschehen? Wie viele sind betroffen? Danach soll der Anrufer auf Rückfragen warten. Die Notrufnummer für die Feuerwehr und den Rettungsdienstlautet 112 und für die der Polizei 110.